Neulich gab es irgendwo eine kurze Debatte darüber, warum Informatiker die natürlichen Zahlen mit 0 beginnen lassen. Das ist eigentlich einfach beantwortet, die Antwort hängt aber davon ab, was man unter einer "Zahl" überhaupt versteht, weshalb eine solche Diskussion schnell im Sand zu verlaufen droht.
Was könnte ich also mit "Zahl" meinen? Ganz am Anfang (noch lange vor rationalen oder komplexen Zahlen) steht die Frage: möchte ich mit meinen Zahlen die Position in einer Reihenfolge beschreiben oder möchte ich eine Anzahl beschreiben?
Wenn ich eine Anzahl Objekte in einer Menge beschreiben will verwende ich
Kardinalzahlen. Hier gibt es einen ganz konkreten Grund, warum 0 die kleinste Kardinalzahl ist: es gibt eine leere Menge. Die braucht eine Mächtigkeit.
Es gibt aber noch einen weiteren guten Grund, warum der Logiker bei der 0 beginnen möchte: dann beschreibt nämlich jede Kardinalzahl die Anzahl kleinerer Kardinalzahlen: 0 hat keine kleineren Kardinalzahlen; die 1 hat eine kleinere Kardinalzahl, nämlich die 0; ...; die 7 hat sieben kleinere Kardinalzahlen, nämlich 0, 1, 2, 3, 4, 5 und 6; .....
Wenn ich dagegen eine Position in einer Ordnung beschreiben will verwende ich
Ordinalzahlen. Wichtig ist hier, dass ich das initiale Element beschreiben kann und wenn ich schon eine gewisse Anzahl an Elementen habe, dass ich dann immer ein (eindeutiges) nächst-größeres Element habe.
Da wir schon Zahlen definiert haben liegt es nahe, diese Zahlen wiederzuverwenden und meine Zahlenreihe 0, 1, 2, ... für die Beschreibung der Position in einer Anordnung zu recyclen. Umgangssprachlich kann ich die Unterscheidung betonen, indem ich von "fünf-elementige Menge" und "fünftes Element" spreche -- allerdings hat sich hier noch nicht durchgesetzt, beim "nullten Element" anzufangen...
...außer in der Informatik. Und das hat einen Grund: denn der Informatiker denkt bei Daten immer an Speicheradressen. Weiß ich, an welcher Stelle im Speicher eine Liste von Daten beginnt, dann ist diese Adresse auch dsie Adresse des
nullten Elements der Liste. Addiere ich einmal die Länge des benötigten Speicherplatzes eines Elements, dann komme ich zum nächsten Element. Beispiel: wenn ab Position 423 in meinem Text das Wort "Stammtisch" steht, dann ist an Position 423+
0 der Buchstabe "S", an Position 423+
1 der Buchstabe "t", usw.
Aber hier liegt nun der Knackpunkt: für die Positionsbeschreibung ist es eigentlich egal, ob ich beim "nullten" oder beim "ersten" Element anfange -- es muss nur dem Hörer oder Leser klar sein! Ich kann genauso gut argumentieren, dass ich in der ein-elementigen Menge eben ein erstes (und letztes) Element finde, in einer zwei-elementigen Menge ein erstes und ein zweites, usw. Das einzige, was diese Sichtweise für den Logiker wenig elegant macht, ist, dass ich zur Indizierung der "2"-elementigen Menge die "2" schon benötige -- in der Umgangssprache kann mir das aber egal sein.
Die Argumente, warum man bei der 0 zu zählen beginnt sind also je nach Zahl-Konzept unterschiedlich (und unterschiedlich überzeugend). Apropos unterschiedlich: beide Konzepte führen uns ja anscheinend zu den natürlichen Zahlen. Warum machen wir also einen Unterschied zwischen den beiden Konzepten?
Die Wahrheit liegt jenseits des Unendlichen! :-o
Und zwar um genau zu sein: eins jenseits des unendlichen. Definieren wir die natürlichen Zahlen sukkzessiv jeweils als die Mengen der kleineren natürlichen Zahlen (0 := {}, 1 := {0}, 2 := {0, 1}, ...), dann erhalten wir die natürlichen Zahlen N = {0, 1, 2, 3, ...}. Was ist nun aber N' := N u {N} = {N, 0, 1, 2, 3, ...} für ein Konstrukt?
Betrachten wir die Mächtigkeit, so ist N und N' gleich (es gibt eine bijektive Abbildung zwischen den Mengen). Die Kardinalität ist also gleich. Als Ordinalzahlen sind sie aber verschieden, denn N' enthält alle Mengen, die auch N enthält, plus N selbst. Es ist also der Nachfolger von N als Ordinalzahl!
Die beiden Konzepte unterscheiden sich also im Unendlichen -- aber das würde jetzt etwas zu weit führen :)
- Thomas