Der erste Absatz von Immanuel Kants Aufsatz
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? liefert eine Definition, die so berühmt wie bis heute aktuell ist:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
In diesem Aufsatz stellt Kant auch die Frage: leben wir jetzt -- das heißt im Jahr 1784 -- in einem aufgeklärten Zeitalter? Seine Antwort ist: Nein, aber in einem Zeitalter der Aufklärung, das dem Menschen zumindest die Möglichkeit einräumt, sich seines Verstandes zu bedienen. Mit anderen Worten: (bürgerliche) Freiheiten gewährt, die nun auch genutzt werden sollten.
Da frage ich mich ja 235 Jahre später: Leben wir denn jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? Und meine Antwort ist: Nein, sondern in einem Zeitalter der Anti-Aufklärung.
Man sollte meinen, dass wir den Mut, selbst zu denken, in über 200 Jahren nicht nur entwickelt haben, sondern ihn auch als Gesellschaft voneinander einfordern, und vor allem denjenigen, die uns das Denken großzügigerweise abnehmen wollen, gepflegt den Stinkefinger zeigen. Das ist nicht der Fall...
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.
Statt auf Bücher, Seelsorger, Ärzte, usw. hören wir heute eben auf
Facebook (-Gruppen) und Google/Youtube. Und natürlich auf
unsere treuen persönlichen Computer-Assistenten.
Die Umstände -- das heißt die Freiheitsrechte und die Möglichkeiten, Wissen zu bekommen und auch selbst zu validieren -- haben sich seit Kants Aufsatz so unglaublich positiv entwickelt... aber scheinbar sind Faulheit und Feigheit doch die stärkeren Kräfte, und wir möchten als Gesellschaft nicht aufgeklärt und frei sein. Unmündigkeit ist eben bequemer.
Brauchen wir eine neue Welle der Aufklärung? Oder finden wir uns einfach damit ab, dass die Mehrheit sich gegen das Selber-Denken entschieden hat?
- Thomas